Mein erlauchter Wesir Said Pascha !
Während in den Zeiten der Größe Unseres ruhmvollen Reiches die Untertanen aller Klassen in voller Sicherheit lebten, haben später, wie allgemein bekannt, verschiedene Ursachen es verhindert, die Rechte des Volkes bis zu dem Grade zu gewährleisten, auf den es ein Recht hat. Daher hat Mein erhabener Vater, Sultan Abdul Medschid Chan, durch den Hatt von Gülhane von neuem die Sicherheit der Person und des Rechtes garantiert und wichtige Grundlagen im Verwaltungssysteme normiert. Ferner hat er durch seinen im Jahre 1856 veröffentlichten Reformferman die Verwaltung nach den Bedürfnissen der Zivilisation des Jahrhunderts geregelt und die Bande verstärkt, die sowohl die verschiedenen Klassen als auch die verschiedenen Religionen an das Vaterland knüpfen. Da der Fortschritt, der sich in dem Zeitraum seit der Schaffung dieser nützlichen Reformen (Tanzimat) bis zum Beginne Unserer Regierung vollzog, es notwendig gemacht hat, das konstitutionelle Regime im Staatsleben einzuführen, wurde auf Unsere persönliche Initiative hin die Verfassung proklamiert. Da jedoch verschiedene schlechte Absichten über den Gedanken des allgemeinen Wohles gesiegt haben, mehrten sich die Ratschläge auf Aufhebung des erwähnten Grundgesetzes und schließlich hat die Regierung unter dem Großwesirate Safwet Paschas beschlossen, diese Verfassung zu suspendieren.
Infolge der Entwicklung der Ereignisse und der Ideen sowie infolge der allgemeinen Veränderungen, die seit jener Epoche bis zur Gegenwart sich vollzogen haben, hat sich das Reich nunmehr für ein konstitutionelles Regime reif gezeigt. Wir haben ein Iradé erlassen, durch das die Inkraftsetzung aller Bestimmungen der Verfassung und die alljährliche Einberufung des Abgeordnetenhauses verfügt wird. Unsere hohe Pforte hat dies überall bekannt gemacht, und gestern, als Ich die Glückwünsche der Botschafter der Mächte und der politischen Vertreter empfing, habe Ich auch erklärt, daß in Zukunft die Anwendung der Verfassung in keiner Weise und in keiner Form angetastet werden darf.
Die Interessen des Reiches bleiben gewahrt, wenn die Gesetzgebung eine geordnete und gesetzliche Form angenommen hat. Da Wir natürlich dies und den Fortschritt der wirklichen Interessen des Staates im Einklange mit den allgemeinen Interessen des Landes voraussetzen, beteuere Ich mit diesem Unseren eigenhändig unterschriebenen Hatt die Endgültigkeit Unseres Iradé, welches über die Inkraftsetzung der Verfassung und die jährliche Einberufung des Abgeordnetenhauses ergangen ist.
Ich will noch hinzufügen, daß alle Bürger, die Unseren Staat bilden, sich des vollen Rechtsschutzes erfreuen müssen, und daß es keinen Unterschied zwischen Person und Person und zwischen Angehörigen der einen und der anderen Klasse gibt, sondern alle in gleicher Weise der Gerechtigkeit teilhaftig werden sollen, sowohl hinsichtlich der Vorschriften der natürlichen Gesetze als auch der in Kraft stehenden Staatsgesetze. Seit einiger Zeit sind, entgegen Unserer Absicht, die Grundsätze in gewissen Gebieten geschwächt worden, und obwohl die Pflichten, die der Verwaltung Unseres Reiches im allgemeinen und den einzelnen Verwaltungszweigen im besonderen obliegen, in den Spezialgesetzen genau bestimmt sind, können mehrere dieser Pflichten nicht in richtiger Weise erfüllt werden. Wie natürlich, hat dies Nachteile verursacht. Um das öffentliche Leben jetzt und künftighin zu sichern, wurde als dringend nötig erkannt, die Grundsätze des gemeinen Rechtes und der der Regierung obliegenden Pflichten zu bekräftigen sowie gewisse Mängel in beiden Beziehungen zu ergänzen, und zwar wie folgt:
1. Alle Unsere Untertanen, gleichgültig, welcher Nation und Religion sie angehören, besitzen persönliche Freiheit und sind gleich in ihren Rechten und Pflichten gegen das Reich.
2. Niemand kann ohne gesetzlichen Grund in Untersuchung gezogen, verhaftet, eingekerkert oder sonstwie bestraft werden.
3. In keiner Form und unter keinem Namen ist die Einsetzung außerordentlicher Gerichte oder Kommissionen zulässig. Niemand darf außerhalb des Wirkungskreises der gesetzlich kompetenten Untersuchungsbehörde oder des kompetenten Gerichtes vorgeladen werden.
4. Das Domizil jedermanns ist unverletzlich. Es ist nicht gestattet, das Haus irgend jemandes zu betreten oder es unter Überwachung zu stellen in einer anderen als in der im Gesetze festgelegten Art und Weise.
5. Die Polizeibeamten und andere Funktionäre, unter welchem Titel oder in welcher Eigenschaft immer, dürfen niemandem aus anderen als aus den im Gesetze bestimmten Gründen verfolgen.
6. Unsere Untertanen haben das Recht, jedes Land aufzusuchen, das sie wollen, sei es zu geschäftlichen Zwecken oder zu was immer für einer Reise, ebenso nach ihrem Wunsche mit Leuten zusammenzukommen oder sie zu besuchen.
7. Die Presse ist vor der Drucklegung nicht der Kontrolle der Regierung unterworfen. Privatbriefe und periodische Druckschriften dürfen von der Post nicht mit Beschlag belegt werden. Preßdelikte werden von den ordentlichen Gerichten verfolgt.
hierzu das Preßgesetz und das Gesetz über die Druckereien vom 1. Regeb 1327 (=19. Juli 1909)
8. Die Lehre ist frei.
9. Mit Ausnahme der Angehörigen der Armee kann niemand gegen seinen Willen auf einen Posten ernannt werden. Die Beamten sind nicht gezwungen, Befehlen zu gehorchen, die ihnen im Widerspruch mit den Gesetzen erteilt werden, und es steht ihnen frei, ihr Amt niederzulegen, sobald sie dies wünschen. Sie sind daher für die Führung der ihnen anvertrauten Amtsgeschäfte verantwortlich.
10. Der Großwesir wird die Auswahl der Minister, mit Ausnahme des Scheich-ül-Islam, des Marine- und des Kriegsministers treffen und seine Vorschläge Unserer Sanktion unterbreiten. Dem Großwesir obliegt weiter die Auswahl der diplomatischen Vertreter aller Art bei den auswärtigen Mächten mit Zustimmung des Ministers des Äußern, ferner der Provinzgouverneure mit Zustimmung des Ministers des Innern und der Mitglieder des Staatsrates mit jener des Präsidenten des letzteren. Die Auswahl und erforderlichen Falles die Ersetzung aller Beamten, ebenso wie ihre Auszeichnung oder ihr Avancement geschehen mit Genehmigung des Ministers oder der Chefs jener Behörden, denen sie unterstehen, und gelangen mit Zustimmung des Großwesirs zur Durchführung.
11. Jeder Beamte hat sich mündlich oder schriftlich ausschließlich an seinen Chef und stets nur an das zuständige Departement zu wenden.
Der Chef allein gibt Befehle an die ihm unterstellten Beamten. Er ist aber nicht befugt, sei es schriftlich oder mündlich, einem Departement oder Beamten, die nicht seinem Wirkungskreise unterstehen, Befehle zu erteilen und er darf mit diesen letzteren auch nicht in Korrespondenz treten.
12. Für den Fall, als es sich herausstellen sollte, daß bei der Wahl oder bei der Ersetzung von Beamten ein Fehler unterlaufen ist, hat das Großwesirat die besondere Pflicht, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Ursachen festzustellen, den begangenen Fehler gutzumachen und jene Beamten zu ersetzen, hinsichtlich deren erwiesen ist, daß sie entweder Willkürlichkeiten sich zuschulden kommen ließen oder außerstande sind, ihre Pflichten zu erfüllen.
13. Das Budget der ordentlichen und außerordentlichen Staatseinnahmen und -ausgaben ist unter allen Umständen vollinhaltlich zu Beginn jedes Jahres zu veröffentlichen. Gleichzeitig mit dem allgemeinen Budget ist auch das Budget für jedes Departement und Wilajet jedes Jahr zu verlautbaren.
14. Nach durchgeführter Revision der verschiedenen Gesetze und Vorschriften für die Organisation und den Wirkungskreis der Ministerien und der Wilajetsbehörden werden die Gesetzesvorlagen über die Abänderung derselben gemäß den gegenwärtigen Bedürfnissen zur Unterbreitung der Deputiertenkammer, die demnächst zusammentreten wird, vorbereitet werden.
15. Da Ich in Meiner kaiserlichen Armee die Mittel zur Macht des Reiches erblicke, halte Ich vor allem den Fortschritt des Militärwesens und die Ausgestaltung der Bewaffnung und der übrigen Ausrüstungsgegenstände für absolut notwendig. Diesbezüglich sind an den Kriegsminister Unsere besonderen Befehle ergangen.
Es ist Unser Wunsch, daß die Bildung des neuen Ministeriums Unserer Sanktion unterbreitet werde, und daß Ihre Bemühungen im Verein mit jenen Ihrer Kollegen der Durchführung der vorstehenden Artikel und der guten Leitung der Staatsgeschäfte gewidmet seien.
Gott der Allmächtige möge Ihnen Erfolg verleihen !
Der Hatt-i humajun von 1908 war sowohl die Wiederinkraftsetzung der seit 1878 mit der Auflösung des Parlaments suspendierten Teile der Verfassung von 1876 wie auch die Fortentwicklung und Revision der Verfassung von 1876.
Die Verfassung von 1876 wurde in den Jahren 1909, 1911, 1914, 1915, 1916 und 1918 geändert.