Vorläufige Verfassung
der deutschösterreichischen Provinz Sudetenland

vom 16. November 1918

aufgehoben in Folge der militärischen Besetzung durch die tschechoslowakischen Milizen im Laufe der Monate April - Juni 1919
 

Auf Grund des Beschlusses der provisorischen Landesversammlung des Sudetenlandes wird angeordnet:

§ 1. Die Gebietshoheit der Provinz Sudetenland wird durch die vorläufigen Beschlüsse der Nationalversammlung Deutschösterreichs in Wien laut Beilage bestimmt und durch die gesetzliche Festlegung der deutschösterreichischen Gebietshoheit endgültig geregelt.

§ 2. Die vorläufige Landesversammlung, dem Kräfteverhältnisse der deutschen Parteien bei den letzten Reichsratswahlen entsprechend zusammengesetzt, besteht aus 46 Mitgliedern und hat ihren Sitz vorläufig in Troppau.

§ 3. Diese Landesversammlung tritt vorläufig an die Stelle der Landtage, die durch das kaiserliche Patent vom 26. Februar 1861, R.G.Bl. Nr. 20, eingeführt worden sind, in deren letztem durch Gesetze und Patente geregeltem Bestande.

§ 4. Der aus der provisorischen Landesversammlung gewählte tritt an die Stelle der in erwähntem Patente vorgesehenen Landesausschüsse. Die in den Landesordnungen enthaltene Bestimmung, wonach die Landtage untereinander nicht in Verbindung treten, Abordnungen in die Versammlung des Landtages nicht zugelassen und bloß von Mitgliedern überreichte Bittschriften übernommen werden dürfen, ist aufgehoben.

§ 5. Die vorläufige Landesversammlung Sudetenland wählt aus ihrer Mitte mit Stimmenmehrheit den Landeshauptmann und außer ihm durch Verhältniswahl 2 Stellvertreter. Der Landeshauptmann und seine Stellvertreter leiten als Vorsitzende die Verhandlungen der Landesversammlung und die Geschäfte des Landesauschusses. Die Landesversammlung wird vom Landeshauptmann nach dessen freiem Entschluß oder, wenn ein Drittel der Abgeordneten es fordert, einberufen.

Die vorläufige Landesversammlung ist berechtigt, zur Bearbeitung besonderer Angelegenheiten aus ihrer Mitte gewählte Fachausschüsse einzusetzen. Die Fachausschüsse haben das Recht, sich durch die Heranziehung von Sachverständigen zu verstärken.

§ 6. Der Landeshauptmann und seine Stellvertreter bilden eine kollegiale Behörde, die den Namen „Landesregierung“ führt.

§ 7. Die Landesregierung übernimmt alle diejenigen Amtsgeschäfte, die durch das Gesetz vom 19. Mai 1868, R.G.Bl. Nr. 44, über die Einrichtung der politischen Verwaltung, Behörden und die auf dasselbe folgende Gesetzgebung den nach § 2 des erwähnten Gesetzes an der Spitze der politischen Verwaltung in den Königreichen und Ländern stehenden Landeschefs zugewiesen sind. Die bisherige Scheidung der landesfürstlichen und autonomen Verwaltung ist somit aufgehoben.

§ 8. Die Landesregierung bestellt zur Vereinheitlichung des Dienstbetriebes und zur Vereinfachung der Dienstführung unter dem Titel „Landesverweser“ ein Organ, der als unmittelbar Vorgesetzter sämtlicher Beamten und Diener des Landesausschusses und der Landesregierung, das oberste Vollzugsorgan der Landesregierung, darstellt. Eine Geschäftsanweisung wird festsetzen, welche Angelegenheiten der Einzelentscheidung des Landesverwesers und welche der kollegialen Entscheidung der Landesregierung unterliegen.

§ 9. Die Landesregierung und der Landesausschuß sind dem Landtag für ihre Geschäftsführung verantwortlich, soweit sie nicht im bloßen Vollzuge von Gesetzen oder auf Grund von Gesetzen erlassener Verordnungen, Verfügungen und Weisungen zu handeln.

§ 10. Die Landesregierung ist an die Gesetze, Verordnungen, Verfügungen und Erkenntnisse, die von der Nationalversammlung wie von deren Vollzugsorganen ausgehen, gebunden.

§ 11. Der Landesregierung und dem Landesauschusse sind sämtliche lokale Verwaltungsorgane untergeordnet. Die Einrichtung und Zuständigkeit der einzelnen lokalen Verwaltungsstellen wird besonders geregelt werden.

§ 12. Die bisher zur autonomen Verwaltung gezählten Verwaltungsaufgaben werden im Landesauschusse auf Grund der ständigen Berichterstattung je eines der Besitzer des Landesauschusses geführt.

§ 13. Der Landesauschuß von Sudetenland wird aus der Vollversammlung gewählt und besteht aus 6 Mitgliedern. In diese Zahl sind der Landeshauptmann und seine beiden Stellvertreter nicht mit eingerechnet.

§ 14. Der Landeshauptmann, die Landesregierung und der Landesausschuß sind berechtigt und verpflichtet, unverzüglich diejenigen Dienstaufgaben und Machtvollkommenheiten zu übernehmen und auszufüllen, welche in dieser vorläufigen Landesverfassung noch nicht geregelt sind, aber durch Gesetze der Nationalversammlung Deutschösterreichs werden.

§ 15. Bis zur Ausarbeitung einer eigenen Geschäftsordnung wird für die Verhandlungen des Landesausschusses der Landesversammlung und der Fachausschüsse die für die Nationalversammlung Deutschösterreichs geltende Geschäftsordnung, die in der sinngemäßen Anwendung der Geschäftsordnung des früheren Abgeordnetenhauses besteht, gelten.

 


Quellen: Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich, Dritter Teil, 1919 S. 219
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© 25. August 2012
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